Longyearbyen, spitzbergen - tag 10

So unterschiedlich die Menschen, so unterschiedlich die Wahrnehmung. Schon bei der letzten Reise sahen die meisten Teilnehmer nicht etwa Spitzbergen als das Highlight der Reise an, sondern das Nordkap. Das ist erstaunlich, ist doch das Nordkap aus Deutschland auch mit dem Bus in einer geführten Reise zu erreichen, was eine Kreuzfahrt unter dem Strich auch ist. Für uns ist ganz klar Spitzbergen der Höhepunkt der Reise. Spitzbergen, dieses wilde, unnahbare und kaum erforschte Archipel im Norden über unseren Köpfen. Spitzbergen liegt auf 78° Nördlicher Breite und ist damit so ziemlich der nördlichste Punkt auf unserem Planeten, den man als "Otto-Normal-Verbraucher" erreichen kann. Der Blick auf den Globus ist äußerst lohnenswert, wenn man mal den Finger auf N78° einmal um die Erde kreisen lässt. Da gibts nicht mehr wirklich viel.

Spitzbergen bzw. genauer Longyearbyen ist weder ein Erholungsort noch eine kulturelle Institution. Das Leben hier ist hart und orientiert sich an den äußeren Bedingungen. Man wird hier also eine Menge Dinge sehen und erleben, die sich vielleicht nicht mit der Erwartung von "Polaridylle" überein bringen lassen. So ähnlich wie nebenstehend sieht es aller Orten aus in Longyearbyen. Die Dinge hier sind meistens praktisch organisiert, selten schön. Diese Darstellung ist keinesfalls eine Wertung, sondern hat beschreibenden Charakter.

Wir haben dieses Mal entschieden, in Longyearbyen ein bisschen zu Fuß zu wandeln und die Dinge anzuschauen, die wir beim letzten Mal aus Zeitmangel nicht geschafft hatten. So zum Beispiel die Kirche, die recht bekannt ist und ansonsten einfach ein bisschen den Tag in einer Stadt zu verbringen.

Longyearbyen ist so eine Destination, deren Wahrnehmung sehr vom Wetter abhängt. Links ein Bild unseres diesjährigen Besuches und rechts von 2017. Bei strahlendem Wetter wirkt Longyearbyen ganz anders, lebendiger und nicht so trostlos wie bei bedecktem Grau in Grau. Ich fand den Unterschied schon bemerkenswert, wie man in der Wahrnehmung andere Dinge bemerkt, wenn das Auge nicht an den tollen Schneebergen im Sonnenlicht hängt.

Der gesamte Charme von Longyearbyen ist mit "morbide" schon treffend beschrieben, es ist eine ehemalige Industriegegend. Aber es wird auch viel Quatsch erzählt, so z.B. dass man hier nicht beerdigt werden dürfe. Es gibt zwar ein paar besondere Regeln, aber es gibt auch einen Friedhof. Der versprüht einen nüchternen, den Realitäten geschuldeten Charme und ist frei zugänglich in der Nähe der Kirche.

Die Kirche liegt etwas oberhalb und besticht wie alles hier durch seine nüchterne Reduziertheit auf das Wesentliche. Man muss zum Besuch die Schuhe ausziehen, was ich aufgrund meiner Schnürstiefel auslassen wollte. Direkt neben der Kirche befindet sich das Denkmal für den Terroranschlag von Utoya in Norwegen. Einem Ferienlager auf einer Insel, an dem auch Kinder von Spitzbergen teilgenommen hatten.

Auf Spitzbergen herrscht Permafrost, d.h. die Böden tauen auch im Sommer nicht auf. Daraus folgt, dass alle Ver -und Entsorgungsleitungen oberidisch verlegt werden müssen und sich als lange Würmer durch die Straßen ziehen. An den Gründer von Longyearbyen, John Munro Longyear (1850 - 1922), ein Kohlehändler aus den USA ist mit einem Gedenkstein auch gedacht. Man kann nur erahnen, unter welchen Bedingungen hier in der Stadt mal alles begonnen hat.

Die Spuren dieser Zeit sind allgegenwärtig, sie sind sozusagen "Industriedenkmäler". Auf Spitzbergen gibt es eine einfache Regel. Alles was älter ist wie 1946 darf nicht verändert, entnommen, beschädigt oder sonstwie beeinträchtigt werden. Erstaunlich ist der Zustand der Anlagen, bedenkt man deren Alter und die Einflüsse von Natur und Jahreszeiten an diesem lebensfeindlichen Ort. Manches wirkt, als hätte erst heute Morgen jemand die Maschinen abgestellt. Die Kohlebahn, die früher die Kohle aus den Minen in den Hafen gefördert hat, hängt noch immer an ihren Seilen und zieht sich quer durch ganz Longyearbyen. Offenbar wurde damals noch Qualität erschaffen. Über kurz oder lang wird die raue Umwelt hier Fakten schaffen und diese Anlagen werden entweder in einem Museum konserviert oder sie werden irgendwann verfallen.

Überall in der Stadt laufen einem entweder die Gänse oder auch die Spitzbergen Rentiere über den Weg. Letztere haben wir dieses Mal nur vereinzelt von Weitem gesehen, davon haufenweise von den Gänsen. Die grasen genüsslich das kleine bisschen Vegetation am Wegesrand und lassen sich nicht im Geringsten stören. 

Langsam neigte sich unser Spaziergang dem Ende zu. Er war gut zu bewältigen, trotz Kinderwagen und ist von der Profilierung her eigentlich von jedem zu schaffen. Man kann nahezu einen Rundweg beschreiten, kommt dabei auch an der "Einkaufsstraße" vorbei, in der sich Sportartikel -bzw. Freizeitbekleidungsgeschäfte dicht an dicht drängeln. Auf Spitzbergen gibt es weder Zoll -und Mehrwertsteuer noch sonstige Abgaben, so dass sich möglicherweise insbesondere bei hochpreisigen Markenprodukten ein Schnapper machen lässt. Gerade hier wird solche Bekleidung auch wirklich gebraucht, so dass ein Blick - je nach Zeitplanung nicht schaden kann.

Auf jeden Fall hieß es jetzt wieder Abschied nehmen und Kurs zurück in die Zivilisation zu setzen. Uns fasziniert Spitzbergen immer wieder aufs Neue und wir wünschen uns, mit einem Hurtigruten-Expeditionsschiff wie der MS Fram einmal diese vermutlich wundervolle Erfahrung erleben zu dürfen, diese Inselgruppe mit all ihrer rauen Schönheit zu umrunden.

Nun folgte noch die Ausfahrt von Longyearbyen durch den Isfjord zurück ins Nordpolarmeer. Egal bei welchem Wetter, das Panorama ist einfach unübertroffen. Vorbei an hunderten schneebedeckten Gipfeln nahe und fern an den Fjorden befinden wir uns hier in einer unwirklichen, kaum beschreibbaren Welt. Dazu manchmal die Aida im Vordergrund, dahinter diese ferne und unbekannte Welt. Es ist ein Highlight der Reise, es ist ein Privileg als Mensch hier oben sein zu dürfen.

Appropos Privileg. Das möchte ich hier nicht vorenthalten, auch oder gerade weil es ein sehr ambivalentes Thema ist. Nahe dem Schiff wartete auf uns diese Begrüßung am Straßenrand, die ein unbekannter als Protest gestaltet hat. Ob sie dauerhaft dort steht oder anlassbezogen, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass der Protest ein heikles Thema anschneidet - wenn man selbst zu den Kritisierten gehört, erst Recht. Der Tourismus ist ein Risiko für jede Region, speziell die Arktis als Fokuspunkt des Klimawandels besonders betroffen. Es ist schwierig, denn einerseits möchte ich die Arktis mit eigenen Augen sehen - andererseits kann ich aber weder segeln noch rudern.

Wir hoffen darauf, dass die Branche ihre Bemühungen fortführt, insbesondere das besonders giftige Schweröl endlich aus den Schiffen zu verbannen. Hurtigruten und AIDA (die Nova) haben bereits Schiffe mit 100% Gasantrieb und es folgen hoffentlich noch viele Weitere.